Dienstag, 23. Dezember 2014

Home.



Was bedeutet eigentlich zu Hause? Ist es eine Heimat, ein Land oder eine Stadt? Ist es eine fixe Idee, die einem im Kopf herumschwirrt, von einem Ort des Ankommens, des Wohlfühlens, des Dahingehörens oder der Familie? Oder ist es ein Ort, den man im Herzen trägt, egal wohin man geht? 

Das habe ich mich gerade gefragt, als ich anfangen wollte, über unsere Homevisits – also Hausbesuche – bei einigen Schülern und Schülerinnen der Special School zu schreiben. Meistens sehen wir sie nur in ihren Schuluniformen auf dem Schulgelände, manchmal grüßen wir beim Abholen der Tagesschüler einige der Eltern, viel mehr bekommen wir von ihrem Privat- bzw. Familienleben eigentlich nicht mit. Dabei hat das Zuhause, wie es für den Einzelnen auch ausschaut, doch immer eine besondere Bedeutung im Leben. Deshalb war es für uns eine einmalige Chance, als uns der Physiotherapeut der Schule, Bonface, einlud, einige der Kinder in den Ferien zu besuchen. Das Physiotherapie-Programm wurde von einer ehemaligen Freiwilligen, Maria, ins Leben gerufen und wird durch Sponsoren aus Deutschland finanziert. So kann Bonface für einige Stunden in der Woche den Kindern Physiotherapie anbieten, die dies besonders benötigen. Manche Kinder haben nämlich nicht nur eine geistige, sondern auch eine körperliche Behinderung, und so kann ihnen individuell im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme gegriffen werden. Oft handelt es sich um Fehlstellungen der Extremitäten oder steife Muskeln, die den Kindern alltägliche Bewegungen erschweren.
 
Gestartet wurde das Programm aufgrund von Manoti, einem Schüler mit einer starken Fehlstellung der Beine, der dank der Physiotherapie laufen kann. Ihn haben wir auch als erstes besucht. Bonface hat uns erklärt, dass sich manche Fortschritte, die er während der Schulzeit mit den Kindern macht, in den Schulferien wieder zurück entwickeln und es den Kindern am Schulanfang körperlich wieder schlechter geht als vorher. Er ist allerdings nur während der Schulzeit in der Schule angestellt und kann darüber hinaus in den Ferien nicht bezahlt werden. Zusammen haben wir entschieden, im besonders schweren Fall von Manoti eine Ausnahme zu machen und ihm in den Ferien eine regelmäßige Physiotherapie anzubieten. Während der knapp 2 Monate besucht ihn Bonface 3 Mal pro Woche, um mit ihm Übungen zu machen. Die Schule hat dabei die Fahrt- und Verpflegungskosten übernommen und wir konnten mithilfe der Spenden Bonface einen kleinen Lohn zahlen, der zwar keinem vollen Gehalt entspricht, aber eine Wertschätzung seiner Arbeit darstellt. An dieser Stelle noch einmal vielen Dank an meine Familie und Freunde, die meine Arbeit hier mit ihren Spenden so großzügig unterstützt haben und dies möglich machen!

 
Manoti mit seinem Vater


Zurück zu Manoti. Sein Zuhause liegt etwas außerhalb von Kisii auf dem Land. Es ist ein einfaches Haus umgeben von grünen Feldern und Bäumen, in der Nachbarschaft seiner Großeltern, Tanten, Onkels und Cousins und Cousinen. Für uns war es besonders schön, seinen Vater kennen zu lernen. Wir haben gehört, dass in Kenia Kinder mit Behinderung in ihren Familien nicht als gleichwertig anerkannt und oft vernachlässigt werden. Deshalb war es umso schöner, zu sehen, wie liebevoll der Vater mit Manoti umgegangen ist. Ihr müsst wissen, dass Manoti ein wahrer Sonnenschein ist und sich über jede Form der Zuneigung unglaublich freut! Nur die Physiotherapie war für ihn schwer zu ertragen, da seine Beine geschient und er dann provisorisch ans Fenster gebunden wurde, damit sie sich strecken (normalerweise geht er immer mit gebeugten Knien). 




 
Ein bisschen Musik zur Ablenkung...




Bonface bedauerte auch, dass ihm keine besseren Mittel zur Verfügung stehen und er deswegen improvisieren muss. In den letzten Tagen hat er allerdings einen Tisch für Manoti gebaut, an dem er sich abstützen kann.Als Dank für unseren Besuch wollte uns der Vater am Schluss noch ein Huhn schenken, das wir aber freundlich ablehnten. Wir haben gemerkt, dass er sich über unseren Besuch sehr gefreut und wertgeschätzt gefühlt hat. Bonface meinte, dass der Besuch der Kinder den Eltern zeigen soll, dass die Kinder wichtig genommen und anerkannt werden. Außerdem kann Bonface sich so mit den Eltern austauschen, die familiären Hintergründe kennen lernen, den Eltern Tipps geben, wie sie im Alltag mit der körperlichen Behinderung umgehen können, und ihnen Massagen und Bewegungsübungen zeigen.

Anna mit Kindern aus Manotis Nachbarschaft


Unser zweiter Besuch fand bei Martha statt. Sie ist Anfang zwanzig und hat eine schwere körperliche Behinderung, die auf einer Fehlstellung der Wirbelsäule beruht. Meistens liegt sie nur auf der Wiese herum und es ist schwer, mit ihr zu kommunizieren, da sie weder spricht noch sich in Gestik oder Mimik mitteilt. Ihr Vater hat uns aber erklärt, dass es ihr meistens gut geht, wenn sie sich ruhig und still verhält, und sie anfängt, laute Geräusche zu machen, wenn sie etwas stört. Wir haben gemerkt, dass die Hausbesuche sehr lehrreich sein können, da die Familienmitglieder die Kinder natürlich noch besser kennen und so auch Bonface und uns hilfreiche Tipps geben können.

Bei Martha zu Hause

 
Bonface mit Martha und ihrem Vater


Bonface hat Martha mit einer Maschine massiert, die gleichzeitig Infrarot-Lampe und Massagestab war, um Marthas Rückenmuskeln zu entspannen. Währenddessen hat der Vater daneben gesessen und zärtlich ihre Hand gehalten. Wir waren sehr berührt von seinem Lebensmut. Die Mutter hat ihn vor einigen Jahren zusammen mit ihren anderen zwei Kindern verlassen, sodass er sich jetzt allein um Martha und seine tägliche Arbeit auf dem Feld und den Haushalt kümmern muss. Trotzdem, sagte Bonface, würde er die Hoffnung nicht verlieren, und er strahlte auch auf uns eine besondere Lebensfreude aus. Zum Schluss schnitt er für uns noch frisches Zuckerrohr und schenkte uns Blumen aus seinem Garten.

Lecker Zuckerrohr :)




Der nächste Besuch stand bei Edgar an. Diesmal ging es nicht raus aufs Land, sondern in eine andere Stadt namens Rongo. Edgar lebte im Gegensatz zu Manoti und Martha in etwas gehobenen Verhältnissen, was man allein schon an der komfortablen Wohnzimmereinrichtung erkennen konnte. 

Edgars Zuhause
 
Mit Edgars kleinem Bruder


Edgar ging es allerdings an diesem Tag nicht so gut und er war sehr schläfrig, sodass Bonface die geplanten Übungen mit Hand und Nacken nicht durchführte. Seitdem er als Säugling aufgrund einer Malariaerkrankung eine Überdosis an Medikamenten erhielt, leidet er unter Epilepsie, die sich in der letzten Zeit verschlimmert hat. Inzwischen bekommt er mehrmals täglich Anfälle und seine Mutter möchte deswegen mit ihm bald zum Arzt gehen, um die Medikamente neu einzustellen. Seine Mutter hat uns berichtet, dass es für sie sehr schwer war, als sie damals Edgars Behinderung feststellte. Anfangs habe sie ihn auch im Haus behalten, damit die Nachbarn nichts mitbekommen und nicht schlecht über sie reden. Später habe sie dann aber doch erkannt, dass er seine Freiheit brauche, und inzwischen akzeptiert sie ihn so wie er ist. 

 
Edgars Mutter mit ihren beiden Kindern

Über unseren Besuch hat sie sich sehr gefreut und wollte uns – da wir schon gegessen hatten – statt einem Mittagsmenü immerhin ein Glas Saft anbieten und mir am Ende sogar ihre kleine Katze schenken, die ich (leider Gottes) aber auch ablehnen musste. Edgars Großmutter meinte zu uns, dass Gäste im Haus einen Glücksfall bedeuten und es Unglück bringen würde, ihnen nichts anzubieten. Die kenianische Gastfreundlichkeit hat uns während der Hausbesuche immer wieder berührt.

Als wir Zedekiah besuchten, wurden wir sogar von seiner Tante mit Reis und Bohnen bekocht. Seine Mutter war leider, wie wir erfuhren, vor vielen Jahren verstorben und der Vater ringt seitdem darum, ihn und seine fünf Geschwister versorgen zu können. Bonface behandelte Zedekiahs Knie mit Massagecreme und elektromagnetischen Wellen.

 
Bonface behandelt Zedekiahs Knie

Es ist angeschwollen und steif und aus der Diagnosestellung eines früheren Arztbesuches ließ sich für Bonfacenicht wirklich erkennen, welche Erkrankung genau vorliegt. Deshalb möchte er Anfang des nächsten Schuljahres ein neues Röntgenbild machen lassen. Auf dem Weg zum Piki-Piki fragte uns der Vater, ob es möglich wäre, Zedekiahs Schulgebühren durch Spenden zu unterstützen. Ich versicherte ihm, dass falls wir nächstes Jahr ein derartiges Spendenprojekt ins Leben rufen, ihm eine hohe Priorität eingeräumt wird.

Mit Zedekiahs Familie

Die letzten beiden Hausbesuche fanden mitten in Kisii statt. Martin, der unter Epilepsie und Diabetes leidet, lebt mit seiner Familie in einem Wohnblock im Zentrum von Kisii. 

 
Eingang zu Martins Wohnblock



Seine Eltern waren beide auf der Arbeit, wollten uns aber keine Umstände machen und deshalb den Hausbesuch nicht absagen. Stattdessen wurden wir von seinen Geschwistern begrüßt, die überaus höflich zu uns waren und uns einen Kuchen und Coca Cola servierten. Bonface massierte Rücken, Arme und Beine von Martin, um seine Muskeln zu stärken, die wegen seiner Erkrankungen und der Medikation sehr geschwächt sind. Außerdem schaffte er es durch die Massage, den hyperaktiven Martin zu beruhigen, sodass er sich entspannen und sogar einschlafen konnte. 

Bonface massiert Martin
 
Mit Martins Geschwistern

Im Anschluss gingen wir noch Isabella besuchen, die keine Eltern mehr hat und deshalb im Kinderheim lebt. Sie hat oft – wie auch an diesem Tag – Stimmungsschwankungen und weigert sich, die Bewegungsübungen für ihre Hand mit Bonface zu machen. Natürlich wollten wir sie nicht drängen, deswegen wurde es nur ein kurzer Besuch. 

Isabella

Trotzdem war es schön für uns, die übrigen Kinder im Heim zu begrüßen, die alle auf uns zugestürmt kamen und an die Hand oder auf den Arm genommen werden wollten. Bei so vielen Kindern und verhältnismäßig wenig Betreuungspersonen können sie an Zuneigung und Aufmerksamkeit wohl gar nicht genug bekommen.

Im Kinderheim


Alles in allem war es für uns eine wertvolle Erfahrung, das Zuhause der Schüler und Schülerinnen der Special School kennen zu lernen und zu erfahren, in welch unterschiedlichen Umständen sie jeweils wohnen und wie die Familienverhältnisse aussehen. Es war für uns sehr lehrreich und hilft uns, sie besser zu verstehen und individuell auf sie eingehen zu können. Ich glaube, dass es auch für die Eltern eine schöne Erfahrung war, so viel Wertschätzung und Aufmerksamkeit für ihr Kind zu bekommen. Denn für Menschen mit Behinderung und deren Familienangehörige, das haben wir auch gemerkt, muss es sehr schwer sein, wenn die Mittel und die Akzeptanz in der Gesellschaft nicht ausreichend vorhanden sind, um sie am alltäglichen Leben gleichberechtigt teilhaben zu lassen.

Jetzt komme ich nochmal auf meinen Anfangsgedanken zurück. Ich habe mich gefragt, was „zu Hause“ bedeutet. Ein Zuhause kann so unterschiedlich sein. Braucht man dafür ein gemütliches Wohnzimmer? Oder vielleicht einfach nur eine liebende Familie? Und wenn man keine Familie hat, was bedeutet zu Hause dann? Oder kann auch jemand anders zu einer Familie werden? Ist „zu Hause“ vielleicht nur ein Gefühl?

Ich würde sagen, dass ich mich hier in Kisii zu Hause fühle. Und dass Tobi und Anna meine kleine, kenianische Familie geworden sind. Gleichzeitig vermisse ich meine Familie in Deutschland. Und meinen Kater. Und den Weihnachtsbaum, unter dem ich dieses Jahr nicht sitzen werde. Mein WG-Zimmer in Jena, das für 3 Jahre lang mein Zuhause war, ist inzwischen neu eingerichtet und bewohnt und wird im Grunde nie wieder das Zuhause sein, das es einmal war, nämlich meins. Und irgendwo in Südfrankreich, mitten in der Pampa, liegt das kleine Dörfchen Burlats, an das ich bei meinem Auslandsaufenthalt vor 4 Jahren hoffnungslos mein Herz verloren habe und das für immer mein Zuhause bleiben wird.

Im Grunde, denke ich, können wir vielleicht in Zukunft eine neue Definition für „Zuhause“ finden, indem wir dem Begriff eine neue Dimension geben. Indem wir uns klarmachen, dass „Zuhause“ nicht an die bestimmten 4 Wände oder eine bestimmte Personenkonstellation gebunden ist. Im Grunde – und jetzt wird es ein bisschen philosophisch – ist doch die Welt unser Zuhause. Wir alle leben auf dem gleichen, verdammten Planeten und tun manchmal so als wäre jeder der Mittelpunkt seines eigenen Sonnensystems. Dabei ist die Welt unser Wohnzimmer. Und wenn man mal von all den Nationalitäten und kulturellen Unterschieden und materiellen sowie immateriellen Grenzen absieht, dann sind wir doch die Familie. Und wir können füreinander sorgen. Und wir können uns um unser Zuhause kümmern. Denn es ist das Einzige, das wir haben. Es ist unser Home.

Mittwoch, 17. Dezember 2014

T.I.K. - This is Kenya! Teil 2



 ... Fortsetzung von Teil 1:

Als wir in der Ferne den Kili ausmachen konnten, konnten wir es fast nicht glauben. Tagsüber ist die Spitze meist von Wolken verhangen, sodass man nur ein riiiiiesiges Bermassiv sieht, was sich als bläulicher Schatten in den Himmel erhebt. Das Hotel, in dem wir übernachteten, stellte sich als eine wahre Touri-Anlage heraus, mit Marmorfliesen, Savannenmustern und Massai-Bildern an den Wänden. In dem ganzen Luxus fühlte ich mich etwas unwohl. Ich dachte darüber nach, dass ich mein Geld für solche teuren Reisen ausgeben kann, während andere sich nicht mal das Nötigste leisten können... Trotzdem freute ich mich auf das Bett. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal in einem richtigen Bett geschlafen habe…

 
Ein richtiges Bett!!

 
Am nächsten Morgen standen wir ganz früh auf, gingen auf den Balkon und siehe da – der Kili hatte sich für uns richtig hübsch gemacht. Man konnte den Berg am wolkenlosen Himmel in der Morgensonne in seiner ganzen Pracht bewundern.





Los ging es auf eine beeindruckende Safari. Herumkutschiert wurden wir in einem fetten Auto mit verdunkelten Fensterscheiben von Tipape, einem Massai, mit dem wir außer ein paar Brocken Englisch nur einige Missverständnisse austauschen konnten. In seinem schicken Karo-Hemd und Jeans, während westliche Popmusik aus den Lautsprechern dröhnte, erinnerte wirklich nichts an ihm mehr an einen Massai, außer den Narben im Gesicht, die der traditionelle Massai-Schmuck verursacht. Die heutige Safari, versicherte er uns, sei eine besonders gute. Denn wir konnten neben Zebras, Antilopen, Gazellen, Büffeln, Gnus, Sträußen und unzähligen Vogelarten sogar eine große Elefantenherde und ein Rudel Löwen sehen! 
































Die Elefanten überquerten nur einige Meter von uns die Straße, sodass wir diese sanften Riesen aus nächster Nähe betrachten konnten. Es ist unglaublich wie langsam und leise sie sind! In gleichmäßigen Schritten trotteten sie voran und das einzige, was man hörte, war das Rascheln im Gras. Solche riesigen Lebewesen von so Nahem zu sehen hat etwas Magisches.












Auch die Löwen waren ein Glücksfall, da man sie tagsüber eher selten zu sehen bekommt. Sie lagen entspannt in der Mittagssonne herum, während sie in der Ferne ein Gnu beobachteten.



Zwischendurch kamen wir an einer Großfamilie Paviane vorbei, die uns auf die Autohaube sprangen und ein paar von unseren Keksen ergatterten. Besonders die kleinen waren unglaublich süß und es ist doch bemerkenswert, wie geschickt und menschenähnlich die Affen mit ihren Händen umgehen können, wenn sie sich gegenseitig akribisch nach Parasiten untersuchen.

 
Gemeinschaftliche Körperpflege



Paviane auf der Motorhaube... mal was anderes!


Als wir in einer Lodge Rast machten, kamen ein paar Massai auf uns zu, die uns für einen „Sonderpreis“ ein Massai-Dorf mitsamt traditionellen Riten, Feuermachen und Tänzen zeigen wollten.Der Preis pro Person entsprach ungefähr dem einer teuren Kinokarte. Einmal Massai-Menschen in 3D, bitte. Wir lehnten ab. Wir wollten andere Menschen nicht beobachten wie exotische Tiere in einem Zoo. So als gehörten bunt bekleidete Massai, die vor ärmlichen Lehmhütten um ein Feuer tanzen, wie die Löwen zum Savannenbild dazu, das man als Tourist gerne fotografiert, um zu Hause sein Stück vom „echten Afrika“ stolz herumzeigen zu können. Ohne dabei zu berücksichtigen, dass das "echte" Afrika um einiges vielschichtiger ist als das, was man aus Hollywoodfilmen und Bilderbüchern kennt und was in Nationalparks künstlich am Leben erhalten wird.

Überhaupt haben ostafrikanische Nationalparks zwei Seiten. Einerseits schützen sie die ursprüngliche Landschaft und damit den Lebensraum ihrer Tiere, die sonst von Wilderern bedroht wären. Die Schönheit dieser „unberührten“ Landschaft lockt alljährlich Hunderttausende von Touristen nach Kenia. Andererseits ist diese Landschaft nicht so unberührt, wie sie vielleicht erscheinen mag. Über Jahrhunderte hinweg haben hier die Massai ihre Ziegen- und Kuhherden über die weiten Ebenen geführt und mit der Bildung der Nationalparks durch die Briten wurde ihnen quasi die Existenzgrundlage genommen. „Die Massai fühlen sich nicht nur um ihr Land, sondern auch um den Respekt vor ihrer Lebensweise und ihrer Kultur betrogen.“, so Ingrid Laurien, „Der romantische Aufzug und die stolze Haltung des Massai-Kriegers täuschen: Die Massai stehen ganz unten auf der sozialen Stufenleiter der kenianischen Gesellschaft. Wegen der noch sehr traditionellen Lebensweise vieler Massai-Gemeinschaften, zu der ein jahrelanger Aufenthalt der jungen Männer in der Steppe gehört, haben viele Massai noch heute nur wenig oder gar keine Schulbildung und können deshalb allenfalls auf ungelernte Jobs hoffen.“ Man muss sich also klarmachen, dass die stolzen Massai auch ein Teil der großen Show mit dem Titel „romantisches Afrika“ sind, die bei uns in Europa über die Fernsehbildschirme flackert und in Kenia immer wieder zugunsten der Touristen inszeniert wird.Allerdings bringen diese Touristen – und da zählten wir in diesem Fall dazu –auch hohe Summen an Geld ins Land, das sie bereit sind für den Parkeintritt, die Safarifahrt, den Lodge-Aufenthalt, die Massai-Show oder ein paar nette Mitbringsel auszugeben. 
Ob man das unterstützen möchte, ist eine persönliche Abwägung. Wegdenken lassen sich die Nationalparks aus dem Gesamtbild Kenias sicherlich nicht. Schließlich sind die Natur- und Tierwelt eins der unvergleichbaren Reichtümer und die wichtigste Ressource Kenias. Und jetzt komme ich wieder zum Anfang: Ja, auch das ist Kenia. Nicht mehr und nicht weniger. Nicht echter, nicht authentischer als die Wolkenkratzer in Nairobi, die Wellblechhäuser in den Bergen, die Hühner im Matatu oder Justin Bieber im Radio. Alles gehört gleichermaßen zum Bild von Kenia dazu. Und ich versuche, das alles irgendwie in meinem Kopf zu vereinen.

T.I.K.

T.I.K. - This is Kenya! Teil 1



“T.I.K.”, Abkürzung für “This is Kenya – Das ist Kenia!” ist meine persönliche Abwandlung von „T.I.A.“ für „This is Africa – Das ist Afrika!“. Der Ausspruch „T.I.A.“ wird oft von englischsprachigen Weißen benutzt, die als Touristen nach Afrika kommen und sich dort mit Umständen konfrontiert sehen, die sie als „eindeutig afrikanisch“ einstufen: Afrika ist dreckig, unpünktlich und unorganisiert. Und wenn sie dann ihren ersten Stromausfall erleben, können sie einmal laut aufseufzen und mit bedeutungsschwerer Stimme feststellen: Naja, DAS ist eben Afrika!

Auch wenn es nur ein kleiner Satz ist, verrät er doch, wie stark solche negativen Stereotype noch unsere Wahrnehmung und Beurteilung von Situationen des „afrikanischen Lebens“ beeinflussen. Jacqueline Muna Musiitwa, ruandische Unternehmens- und Politikberaterin, Vordenkerin, Referentin und Autorin in Afrikanischen Angelegenheiten, hat darüber einen interessanten Artikel verfasst. Darin entkräftet sie gängige Vorurteile über Afrika am Beispiel von Ruanda und bedauert, dass die „T.I.A.“-Einstellung der Menschen verhindert, die positiven Seiten des Lebens in Afrika wahrzunehmen und vor allem auch Veränderungen anzuerkennen.

Warum ich darüber schreibe? Weil ich denke, dass jeder von uns irgendwelche Bilder von Afrika im Kopf hat, seien es negative, wie z.B. Dreck und Straßenkinder, oder positive, wie z.B. die untergehende Sonne in der Savanne. Es gibt niemanden von uns, der behaupten könnte, vorurteilsfrei zu sein. Dafür werden diese Bilder viel zu oft und eindringlich über die modernen Medien verbreitet und verstärkt. Wir können uns nur dessen bewusst werden und versuchen, uns auf ein neues Bild von Afrika einzulassen. Das Afrika, das unglaublich vielfältig ist, sich rasend schnell entwickelt und das Potenzial und das Recht darauf hat, die Richtung dieser Entwicklung selbst zu bestimmen. 

Ich schreibe aber auch darüber, weil ich euch ein paar Bilder zeigen werde, die bestimmt die ein oder andere Afrikaphantasie in euch wecken werden: Zebras vor einer Bergkulisse, Gazellen in der Savanne und Giraffen im Sonnenuntergang - für viele Touristen der Inbegriff unberührter, ursprünglicher afrikanischer Landschaft.„T.I.K.“ - Ja, auch das ist Kenia. Aber eben nicht nur…

Doch genug dazu und los geht’s mit unserer Reise in die kenianischen Nationalparks.

 
Teefelder bei Kericho


Die Fahrt nach Naivasha war mal wieder ein Erlebnis für sich. Abgesehen davon, dass es immer ein kleines Abenteuer ist, im bunten, vollgestopften Matatu mit afrikanischem Beat und dröhnendem Bass in den Ohren über Huckelpisten zu brausen, durften wir mal wieder eine wunderschöne Landschaftssafari miterleben. Diesmal sind wir über Kericho gefahren, eine Stadt, die für den Teeanbau bekannt ist. Und auf dem Weg nach Kericho fuhr man wirklich an etlichen Plantagen vorbei, die mit ihrem saftigen Grün, das in ordentliche, rechteckige Felder eingeteilt war, eine sonderbare Kulisse abgaben. Auf den Feldern sah man ein paar Frauen mit Körben auf dem Rücken Teeblätter pflücken. Die Briten konnten sich damals ihren Tee-Vorrat in Hülle und Fülle in ihrer ostafrikanischen Kolonie anbauen lassen. Inzwischen ist Kenia der Teelieferant Nr. 1 in der Welt.



Irgendwann wurde die Landschaft wieder wilder und bergiger und ich fühlte mich ein wenig in die südfranzösischen Pyrenäen versetzt, wären da nicht die kleinen Häuser mit ihren Stroh- und Wellblechdächern gewesen, die die Landschaft unverwechselbar prägen.




Dass man in Naivasha gelandet ist, erkennt man wohl am besten daran, dass plötzlich Scharen von blassgrünen Gewächshäusern am Fenster vorbeiziehen. Am Westufer des Naivashasee stehen sie dicht an dicht und geben vor den Ausläufen des Mount Longonot ein skurriles Markenzeichen ab. Von hier kommen die Schnittblumen – vor allem Rosen –, die man später in deutschen Supermärkten kaufen kann. Zwei von drei in Deutschland verkauften Rosen stammen aus Kenia. Für Kenia ist der Blumenhandel neben Tee und Tourismus der wichtigste Wirtschaftszweig. 

 
Blumenplantagen in Naivasha

In Naivasha sieht die Situation allerdings nicht ganz so rosig aus. Seitdem die erste Blumenplantage von einem Niederländer direkt am See eröffnet wurde, vermehrten sich die Gewächshäuser dort rasend schnell, was zu einer drastischen Bevölkerungszunahme und zur Zerstörung des lokalen Ökosystems führte. Der erhöhte Wasserverbrauch und die Verschmutzung des Sees durch die mit Pestiziden und Kunstdünger angereicherten Abwässer aus der Blumenproduktion stellen schwerwiegende Probleme für die Umwelt dar. Auf den Blumenplantagen arbeiten hauptsächlich Frauen unter gesundheitsschädlichen Bedingungen für einen niedrigen Arbeitslohn. Besonders vor dem Valentinstag oder Muttertag müssen die Arbeiterinnen zahlreiche, meist nicht oder schlecht bezahlte Überstunden machen. Natürlich gibt es auch hier die sicherlich bessere Fair-Trade-Alternative, die inzwischen bei REWE, Edeka und Penny erhältlich ist. Eine in allen Punkten nachhaltige Rosenproduktion in Kenia für den europäischen Markt kann es allerdings allein aufgrund der CO2-Bilanz und des hohen Wasserverbrauchs nicht geben. Daran werde ich sicher das nächste Mal denken, wenn ich das nächste Mal bei Penny an der Kasse stehe. Ein paar Fakten zum Rosenanbau in Naivasha und Infos zum Fairen Handel mit Blumen sind hier zu finden und auch die Zeit hat dazu einen Artikel herausgegeben.

Blick auf den Naivashasee am Morgen

Übernachtet haben wir in Naivasha in einem Zeltlager direkt am See. Wir haben zwar gefühlt direkt auf dem Boden geschlafen und ich war am nächsten Morgen ziemlich durchgefroren, aber das ist doch nichts dafür, dass man aufwacht und beim Heraustreten aus dem Zelt direkt auf den See im Sonnenaufgang schauen kann. Außerdem hatten wir das Glück, ein Nilpferd am Ufer grasen zu sehen. „Guckt mal, das grast da! Wie eine Kuh!“ war Annas Kommentar dazu.

Ein grasendes Hippo


Am nächsten Morgen ging es gleich auch schon los auf unsere erste Tour in einen Nationalpark. Wir schnappten uns ein paar Fahrräder und machten uns auf den Weg in „Hell’s Gate“. Der Park erhielt diesen Namen von seinen „Entdeckern“ Gustav Adolf Fischer und Joseph Thomson, weil er in einer großen Felsschlucht im Lavagestein erloschener Vulkane mündet, in der heiße Quellen sprudeln. Je weiter man in die Schlucht geht, desto heißer werden die Quellen, sodass man wohl das Gefühl haben muss, sich in Richtung Hölle zu begeben. „Hell’s Gate“ ist allerdings nicht der ursprüngliche Name für dieses Gebiet, da es natürlich schon lange von Menschen bewohnt war, bevor die weißen Christen dort ankamen. So verhält es sich mit vielen Länder-, Städten-, Orts-, Berg- und Tiernamen in Ostafrika. Auch die Bezeichnung „Kenya“ ist eine von den Briten verballhornte Form des Namens „Kirinyaga“, wie der „Mount Kenya“ ursprünglich hieß. Doch die „Entdecker Afrikas“ nahmen es sich selbstverständlich heraus, alles nach ihrem Gusto umzubenennen. 
Mit dem Fahrrad durch Hell's Gate
Der Begriff „Entdecker“ steht deshalb in Anführungszeichen, weil ihre „Entdeckungen“ nicht nur den ansässigen Völkern, sondern auch arabischen und asiatischen Händlern seit langem bekannt waren. Um es mit den Worten eines kenianischen Anthropologen zu sagen: „Niemand hat jemals vorgeschlagen, den ersten Afrikaner, der die Alpen oder die Themse sah, Entdecker zu nennen.“ (aus dem Reisehandbuch „Kenia, Tansania“ von DuMont)

 
Die vulkanische Säule "Fischer's Tower" - benannt nach ihrem "Entdecker"

Im Hell’s Gate angekommen erwartete uns eine anstrengende Fahrradtour vor einer wunderbaren Kulisse. Auf unserem Weg erhoben sich prächtige Felsformationen vor einer weiten Savannenlandschaft, während die Obsidiane – Überbleibsel der abgekühlten Lava – in der Sonne glänzten.





Obsidian - vulkanisches Gesteinsglas


Unsere Mountainbikes hatten nur einen Männersitz und keinen ersten Gang, sodass wir stellenweise bergauf schieben mussten und uns entweder der Hintern oder die Waden wehtaten. Insgesamt verbrachten wir ungefähr sieben Stunden auf dem Rad, da wir uns außerdem in der Route irrten. Am Ende konnten wir uns nur mit letzter Kraft in die berühmte Schlucht schleppen. Trotzdem hat sich die Tour für uns natürlich gelohnt. Noch nie haben wir aus nächster Nähe eine Gazelle grasen, ein Zebra kacken oder ein Warzenschwein über den Weg laufen sehen. Als Anna dann endlich ihre geliebten Giraffen gefunden hatte, war sie auch überglücklich. Es sieht wirklich beeindruckend aus, wie diese riesigen Vierbeiner durch die Gegend stolzieren oder einfach nur wie geschmackvoll platzierte Dekoration herumstehen. Einzig in der Nähe der Büffel fühlte ich mich beim Anblick ihrer Hörner nicht besonders sicher…

 
Eine Thomsongazelle - benannt nach ihrem "Entdecker"




Zebri :)



Zebras vor dem Mount Longonot



Giraffenliebe :)

Ganz nah dran

Pumba in live!






In der Schlucht



Hier wurde Tomb Raider 2 gedreht

Der Hell’s Gate Park diente übrigens auch als Modell für die Savannenlandschaft im Disney-Film „König der Löwen“. Inzwischen können wir uns vorstellen, warum ;)…

Filmszene aus "König der Löwen"

Das Highlight unseres Naivasha-Aufenthalts war definitiv die Reitsafari, die wir spontan einplanten. Vom Drahtesel stiegen wir direkt aufs Pferd, um noch vor Sonnenuntergang zurück zu sein. Ein paar „Experten“ sattelten die Pferde und halfen uns, hinaufzukommen. Sie zeigten uns, wie wir die Zügel halten sollten. Viel mehr Instruktionen gab es nicht. 





Dann ging es los, ein Reiter mit Annas und meinem Pferd im wortwörtlichen Schlepptau. Zuerst fühlte ich mich ziemlich unsicher, man hatte immer das Gefühl, kurz davor zu sein, vom Pferd zu fallen. „Du musst dein Pferd kontrollieren!“, sagte mir der Reiter immer wieder, „so wie du ein Auto kontrollierst!“ Ja, dachte ich mir, weil ich ja auch so gut im Autofahren bin… Aber mit der Zeit wurden wir sicherer und konnten sogar ohne Führung reiten. Es machte unglaublich Spaß, zu merken, dass man langsam die Balance erlangte, sich im Rhythmus des Pferdes auf und ab bewegte und es sogar in bestimmte Richtungen „lenken“ konnte. 

 
Ich auf "Goldfinger"






Abgesehen von dem Reiterlebnis an sich genossen wir auch die wunderschöne Landschaft, die langsam im Sonnenuntergang versank. Wir entdeckten sogar Giraffen, die sich durch die Pferde nicht so schnell verschrecken ließen wie sonst. Wir auf dem Pferderücken, nur ein paar Meter von einer Gruppe Giraffen entfernt, und hinter den Bergen ging die Sonne unter – das war ein unvergleichliches Erlebnis.


Am nächsten Tag tat uns von der Hüfte abwärts eigentlich alles weh. Aber es hatte sich gelohnt. Unsere nächste Safari sollte bequemer werden. Anna und ich machten uns im Matatu auf Richtung Kimana, eine Stadt am Kilimandjaro. Und wieder tauchten wir in eine ganz andere Art von Landschaft ein. Je näher wir kamen, desto weiter schien die Ebene zu werden, mit ein paar Bergen am Horizont. Die Erde leuchtete in diesem starken Braun-Orange, das so typisch für Afrika ist. Und darauf ein paar Flecken aus grünem oder verdorrtem Gestrüpp. 

Wenn ihr wissen möchtet, wie unsere Reise weiterging und welche Natur- und Tierwelt uns am Fuße des Kilimandjaro erwartete, dann lest einfach meinen nächsten Post: "T.I.K. - This is Kenya! Teil 2"