Was bedeutet eigentlich zu Hause?
Ist es eine Heimat, ein Land oder eine Stadt? Ist es eine fixe Idee, die einem
im Kopf herumschwirrt, von einem Ort des Ankommens, des Wohlfühlens, des
Dahingehörens oder der Familie? Oder ist es ein Ort, den man im Herzen trägt,
egal wohin man geht?
Das habe ich mich gerade gefragt,
als ich anfangen wollte, über unsere Homevisits – also Hausbesuche – bei
einigen Schülern und Schülerinnen der Special School zu schreiben. Meistens
sehen wir sie nur in ihren Schuluniformen auf dem Schulgelände, manchmal grüßen
wir beim Abholen der Tagesschüler einige der Eltern, viel mehr bekommen wir von
ihrem Privat- bzw. Familienleben eigentlich nicht mit. Dabei hat das Zuhause,
wie es für den Einzelnen auch ausschaut, doch immer eine besondere Bedeutung im
Leben. Deshalb war es für uns eine einmalige Chance, als uns der
Physiotherapeut der Schule, Bonface, einlud, einige der Kinder in den Ferien zu
besuchen. Das Physiotherapie-Programm wurde von einer ehemaligen Freiwilligen,
Maria, ins Leben gerufen und wird durch Sponsoren aus Deutschland finanziert.
So kann Bonface für einige Stunden in der Woche den Kindern Physiotherapie
anbieten, die dies besonders benötigen. Manche Kinder haben nämlich nicht nur
eine geistige, sondern auch eine körperliche Behinderung, und so kann ihnen
individuell im wahrsten Sinne des Wortes unter die Arme gegriffen werden. Oft
handelt es sich um Fehlstellungen der Extremitäten oder steife Muskeln, die den
Kindern alltägliche Bewegungen erschweren.
Gestartet wurde das Programm
aufgrund von Manoti, einem Schüler mit einer starken Fehlstellung der Beine,
der dank der Physiotherapie laufen kann. Ihn haben wir auch als erstes besucht.
Bonface hat uns erklärt, dass sich manche Fortschritte, die er während der
Schulzeit mit den Kindern macht, in den Schulferien wieder zurück entwickeln
und es den Kindern am Schulanfang körperlich wieder schlechter geht als vorher.
Er ist allerdings nur während der Schulzeit in der Schule angestellt und kann
darüber hinaus in den Ferien nicht bezahlt werden. Zusammen haben wir
entschieden, im besonders schweren Fall von Manoti eine Ausnahme zu machen und ihm
in den Ferien eine regelmäßige Physiotherapie anzubieten. Während der knapp 2
Monate besucht ihn Bonface 3 Mal pro Woche, um mit ihm Übungen zu machen. Die
Schule hat dabei die Fahrt- und Verpflegungskosten übernommen und wir konnten
mithilfe der Spenden Bonface einen kleinen Lohn zahlen, der zwar keinem vollen
Gehalt entspricht, aber eine Wertschätzung seiner Arbeit darstellt. An dieser
Stelle noch einmal vielen Dank an meine Familie und Freunde, die meine Arbeit
hier mit ihren Spenden so großzügig unterstützt haben und dies möglich machen!
Zurück zu Manoti. Sein Zuhause
liegt etwas außerhalb von Kisii auf dem Land. Es ist ein einfaches Haus umgeben
von grünen Feldern und Bäumen, in der Nachbarschaft seiner Großeltern, Tanten,
Onkels und Cousins und Cousinen. Für uns war es besonders schön, seinen Vater
kennen zu lernen. Wir haben gehört, dass in Kenia Kinder mit Behinderung in
ihren Familien nicht als gleichwertig anerkannt und oft vernachlässigt werden.
Deshalb war es umso schöner, zu sehen, wie liebevoll der Vater mit Manoti
umgegangen ist. Ihr müsst wissen, dass Manoti ein wahrer Sonnenschein ist und
sich über jede Form der Zuneigung unglaublich freut! Nur die Physiotherapie war
für ihn schwer zu ertragen, da seine Beine geschient und er dann provisorisch
ans Fenster gebunden wurde, damit sie sich strecken (normalerweise geht er
immer mit gebeugten Knien).
Bonface bedauerte auch, dass ihm keine besseren
Mittel zur Verfügung stehen und er deswegen improvisieren muss. In den letzten
Tagen hat er allerdings einen Tisch für Manoti gebaut, an dem er sich abstützen
kann.Als Dank für unseren Besuch wollte uns der Vater am Schluss noch ein Huhn
schenken, das wir aber freundlich ablehnten. Wir haben gemerkt, dass er sich
über unseren Besuch sehr gefreut und wertgeschätzt gefühlt hat. Bonface meinte,
dass der Besuch der Kinder den Eltern zeigen soll, dass die Kinder wichtig
genommen und anerkannt werden. Außerdem kann Bonface sich so mit den Eltern
austauschen, die familiären Hintergründe kennen lernen, den Eltern Tipps geben,
wie sie im Alltag mit der körperlichen Behinderung umgehen können, und ihnen
Massagen und Bewegungsübungen zeigen.
| Anna mit Kindern aus Manotis Nachbarschaft |
Unser zweiter Besuch fand bei
Martha statt. Sie ist Anfang zwanzig und hat eine schwere körperliche
Behinderung, die auf einer Fehlstellung der Wirbelsäule beruht. Meistens liegt
sie nur auf der Wiese herum und es ist schwer, mit ihr zu kommunizieren, da sie
weder spricht noch sich in Gestik oder Mimik mitteilt. Ihr Vater hat uns aber
erklärt, dass es ihr meistens gut geht, wenn sie sich ruhig und still verhält, und
sie anfängt, laute Geräusche zu machen, wenn sie etwas stört. Wir haben
gemerkt, dass die Hausbesuche sehr lehrreich sein können, da die
Familienmitglieder die Kinder natürlich noch besser kennen und so auch Bonface
und uns hilfreiche Tipps geben können.
| Bei Martha zu Hause |
Bonface hat Martha mit einer Maschine
massiert, die gleichzeitig Infrarot-Lampe und Massagestab war, um Marthas
Rückenmuskeln zu entspannen. Währenddessen hat der Vater daneben gesessen und
zärtlich ihre Hand gehalten. Wir waren sehr berührt von seinem Lebensmut. Die
Mutter hat ihn vor einigen Jahren zusammen mit ihren anderen zwei Kindern
verlassen, sodass er sich jetzt allein um Martha und seine tägliche Arbeit auf
dem Feld und den Haushalt kümmern muss. Trotzdem, sagte Bonface, würde er die
Hoffnung nicht verlieren, und er strahlte auch auf uns eine besondere Lebensfreude
aus. Zum Schluss schnitt er für uns noch frisches Zuckerrohr und schenkte uns
Blumen aus seinem Garten.
| Lecker Zuckerrohr :) |
Der nächste Besuch stand bei
Edgar an. Diesmal ging es nicht raus aufs Land, sondern in eine andere Stadt
namens Rongo. Edgar lebte im Gegensatz zu Manoti und Martha in etwas gehobenen
Verhältnissen, was man allein schon an der komfortablen Wohnzimmereinrichtung
erkennen konnte.
| Edgars Zuhause |
Edgar ging es allerdings an diesem Tag nicht so gut und er war
sehr schläfrig, sodass Bonface die geplanten Übungen mit Hand und Nacken nicht
durchführte. Seitdem er als Säugling aufgrund einer Malariaerkrankung eine
Überdosis an Medikamenten erhielt, leidet er unter Epilepsie, die sich in der
letzten Zeit verschlimmert hat. Inzwischen bekommt er mehrmals täglich Anfälle
und seine Mutter möchte deswegen mit ihm bald zum Arzt gehen, um die
Medikamente neu einzustellen. Seine Mutter hat uns berichtet, dass es für sie
sehr schwer war, als sie damals Edgars Behinderung feststellte. Anfangs habe
sie ihn auch im Haus behalten, damit die Nachbarn nichts mitbekommen und nicht
schlecht über sie reden. Später habe sie dann aber doch erkannt, dass er seine
Freiheit brauche, und inzwischen akzeptiert sie ihn so wie er ist.
Über unseren
Besuch hat sie sich sehr gefreut und wollte uns – da wir schon gegessen hatten
– statt einem Mittagsmenü immerhin ein Glas Saft anbieten und mir am Ende sogar
ihre kleine Katze schenken, die ich (leider Gottes) aber auch ablehnen musste.
Edgars Großmutter meinte zu uns, dass Gäste im Haus einen Glücksfall bedeuten
und es Unglück bringen würde, ihnen nichts anzubieten. Die kenianische
Gastfreundlichkeit hat uns während der Hausbesuche immer wieder berührt.
Als wir Zedekiah besuchten,
wurden wir sogar von seiner Tante mit Reis und Bohnen bekocht. Seine Mutter war
leider, wie wir erfuhren, vor vielen Jahren verstorben und der Vater ringt
seitdem darum, ihn und seine fünf Geschwister versorgen zu können. Bonface
behandelte Zedekiahs Knie mit Massagecreme und elektromagnetischen Wellen.
Es ist angeschwollen
und steif und aus der Diagnosestellung eines früheren Arztbesuches ließ sich für
Bonfacenicht wirklich erkennen, welche Erkrankung genau vorliegt. Deshalb
möchte er Anfang des nächsten Schuljahres ein neues Röntgenbild machen lassen.
Auf dem Weg zum Piki-Piki fragte uns der Vater, ob es möglich wäre, Zedekiahs
Schulgebühren durch Spenden zu unterstützen. Ich versicherte ihm, dass falls
wir nächstes Jahr ein derartiges Spendenprojekt ins Leben rufen, ihm eine hohe
Priorität eingeräumt wird.
Die letzten beiden Hausbesuche
fanden mitten in Kisii statt. Martin, der unter Epilepsie und Diabetes leidet,
lebt mit seiner Familie in einem Wohnblock im Zentrum von Kisii.
Seine Eltern waren beide auf der Arbeit, wollten uns aber keine Umstände machen und deshalb den Hausbesuch nicht absagen. Stattdessen wurden wir von seinen Geschwistern begrüßt, die überaus höflich zu uns waren und uns einen Kuchen und Coca Cola servierten. Bonface massierte Rücken, Arme und Beine von Martin, um seine Muskeln zu stärken, die wegen seiner Erkrankungen und der Medikation sehr geschwächt sind. Außerdem schaffte er es durch die Massage, den hyperaktiven Martin zu beruhigen, sodass er sich entspannen und sogar einschlafen konnte.
| Eingang zu Martins Wohnblock |
Seine Eltern waren beide auf der Arbeit, wollten uns aber keine Umstände machen und deshalb den Hausbesuch nicht absagen. Stattdessen wurden wir von seinen Geschwistern begrüßt, die überaus höflich zu uns waren und uns einen Kuchen und Coca Cola servierten. Bonface massierte Rücken, Arme und Beine von Martin, um seine Muskeln zu stärken, die wegen seiner Erkrankungen und der Medikation sehr geschwächt sind. Außerdem schaffte er es durch die Massage, den hyperaktiven Martin zu beruhigen, sodass er sich entspannen und sogar einschlafen konnte.
| Bonface massiert Martin |
| Mit Martins Geschwistern |
Im Anschluss gingen wir noch
Isabella besuchen, die keine Eltern mehr hat und deshalb im Kinderheim lebt.
Sie hat oft – wie auch an diesem Tag – Stimmungsschwankungen und weigert sich,
die Bewegungsübungen für ihre Hand mit Bonface zu machen. Natürlich wollten wir
sie nicht drängen, deswegen wurde es nur ein kurzer Besuch.
Trotzdem war es schön für uns, die übrigen Kinder im Heim zu begrüßen, die alle auf uns zugestürmt kamen und an die Hand oder auf den Arm genommen werden wollten. Bei so vielen Kindern und verhältnismäßig wenig Betreuungspersonen können sie an Zuneigung und Aufmerksamkeit wohl gar nicht genug bekommen.
| Isabella |
Trotzdem war es schön für uns, die übrigen Kinder im Heim zu begrüßen, die alle auf uns zugestürmt kamen und an die Hand oder auf den Arm genommen werden wollten. Bei so vielen Kindern und verhältnismäßig wenig Betreuungspersonen können sie an Zuneigung und Aufmerksamkeit wohl gar nicht genug bekommen.
Alles in allem war es für uns
eine wertvolle Erfahrung, das Zuhause der Schüler und Schülerinnen der Special
School kennen zu lernen und zu erfahren, in welch unterschiedlichen Umständen
sie jeweils wohnen und wie die Familienverhältnisse aussehen. Es war für uns
sehr lehrreich und hilft uns, sie besser zu verstehen und individuell auf sie
eingehen zu können. Ich glaube, dass es auch für die Eltern eine schöne
Erfahrung war, so viel Wertschätzung und Aufmerksamkeit für ihr Kind zu
bekommen. Denn für Menschen mit Behinderung und deren Familienangehörige, das
haben wir auch gemerkt, muss es sehr schwer sein, wenn die Mittel und die
Akzeptanz in der Gesellschaft nicht ausreichend vorhanden sind, um sie am
alltäglichen Leben gleichberechtigt teilhaben zu lassen.
Jetzt komme ich nochmal auf
meinen Anfangsgedanken zurück. Ich habe mich gefragt, was „zu Hause“ bedeutet.
Ein Zuhause kann so unterschiedlich sein. Braucht man dafür ein gemütliches
Wohnzimmer? Oder vielleicht einfach nur eine liebende Familie? Und wenn man
keine Familie hat, was bedeutet zu Hause dann? Oder kann auch jemand anders zu
einer Familie werden? Ist „zu Hause“ vielleicht nur ein Gefühl?
Ich würde sagen, dass ich mich
hier in Kisii zu Hause fühle. Und dass Tobi und Anna meine kleine, kenianische
Familie geworden sind. Gleichzeitig vermisse ich meine Familie in Deutschland.
Und meinen Kater. Und den Weihnachtsbaum, unter dem ich dieses Jahr nicht
sitzen werde. Mein WG-Zimmer in Jena, das für 3 Jahre lang mein Zuhause war,
ist inzwischen neu eingerichtet und bewohnt und wird im Grunde nie wieder das
Zuhause sein, das es einmal war, nämlich meins. Und irgendwo in Südfrankreich,
mitten in der Pampa, liegt das kleine Dörfchen Burlats, an das ich bei meinem
Auslandsaufenthalt vor 4 Jahren hoffnungslos mein Herz verloren habe und das
für immer mein Zuhause bleiben wird.
Im Grunde, denke ich, können wir vielleicht
in Zukunft eine neue Definition für „Zuhause“ finden, indem wir dem Begriff
eine neue Dimension geben. Indem wir uns klarmachen, dass „Zuhause“ nicht an die bestimmten 4 Wände oder eine
bestimmte Personenkonstellation gebunden ist. Im Grunde – und jetzt wird es ein
bisschen philosophisch – ist doch die Welt unser Zuhause. Wir alle leben auf
dem gleichen, verdammten Planeten und tun manchmal so als wäre jeder der
Mittelpunkt seines eigenen Sonnensystems. Dabei ist die Welt unser Wohnzimmer.
Und wenn man mal von all den Nationalitäten und kulturellen Unterschieden und
materiellen sowie immateriellen Grenzen absieht, dann sind wir doch die Familie. Und wir
können füreinander sorgen. Und wir
können uns um unser Zuhause kümmern. Denn es ist das Einzige, das wir haben. Es
ist unser Home.
